Der Begriff Legasthenie wurde 1916 durch den Psychologen Paul Ranschburg eingeführt. Er führte die Lese- und Rechtschreibschwäche jedoch auf eine eine „nachhaltige Rückständigkeit höheren Grades in der geistigen Entwicklung des Kindes" zurück. In den 50er Jahren konnte nachgewiesen werden, dass Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nichts mit Intelligenzmangel zu tun haben. Durch verschiedene Tests konnte man zeigen, dass die betroffenen Kinder in der Regel durchschnittliche bis überdurchschnittliche IQ-Werte aufwiesen.
Es handelt sich hierbei vielmehr um erhebliche und langandauernde Auffälligkeiten beim Erlernen der Schriftsprache (Lese, Schreiben, Rechtschreiben) oder später bei ihrem Gebrauch. Die Legasthenie bezeichnet also eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zum normgerechten Lesen und/oder Rechtschreiben, unabhängig von der Intelligenz. International gebräuchlicher ist der Begriff „Dyslexie".
Diese Kinder erreichen in den Unterrichtsfächern, wo Lesen oder Schreiben im Vordergrund stehen, Leistungen die unter der altersentsprechenden Norm liegen. In den anderen Unterrichtsfächern erbringen sie zumindest durchschnittliche Leistungen. In der Regel lassen sie keinen erkennbaren Grund für ihre ungenügenden Leistungen erkennen. Geübte Wörter können nicht gespeichert werden, so das sie im nächsten Diktat erneut fehlerhaft wiedergegeben werden. Selbst einfachste Wörter wie „ der, die, das „ werden von den Kindern nicht sicher beherrscht. Zudem haben sie große Schwierigkeiten mit dem Lesenlernen.
Der wissenschaftliche Beirat des Bundesverbandes Legasthenie e.V. definiert den Begriff folgendermaßen:
„ Die Legasthenie (Lese-Rechtschreibschwäche) bezeichnet eine umschriebene Störung im Erlernen der Schriftsprache, die nicht durch eine allgemeine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklungs-, Milieu- oder Unterrichtsbedingungen erklärt werden kann. Vielmehr ist die Legasthenie das Ergebnis von Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung, Motorik und/oder der sensorischen Integration, bei denen es sich um anlagebedingte und/oder durch äußere schädigende Einwirkungen entstandene Entwicklungsstörungen von Teilfunktionen des zentralen Nervensystems handelt.
Das Erlernen der Schriftsprache ist integraler Teil des Erlernens sprachlicher Kompetenz, die sich aus dem Zusammenwirken vielfältiger Wahrnehmungs- und Ausdrucksfunktionen ergibt. Störungen in diesem komplexen System können eine Lese-Rechtschreibschwäche (Legasthenie, Dyslexie) hervorrufen."
Damit ein Kind erfolgreich lesen und schreiben kann, muss dieses komplizierte Puzzle richtig zusammengefügt werden. Dieser sensible Prozess kann durch Störfaktoren an vielerlei Stellen beeinträchtigt werden.
Wer kann nicht als Legastheniker bezeichnet werden?
Kinder mit Lernbehinderungen, geistigen Behinderungen, Sprachproblemen aufgrund ihrer Muttersprache oder Kinder mit besonderen Sinnes-, Sprach- oder Körperbehinderungen können nicht als Legastheniker bezeichnet werden.
Bekannte Persönlichkeiten als Legastheniker
Es gibt eine ganze Reihe berühmter und erfolgreicher Persönlichkeiten als Legastheniker. Hierzu gehören unter anderem:
- Albert Einstein
- Hans Christian Andersen
- Winston Churchill
- Thomas A. Edison
- Harry Belafonte
- Henry Ford
- Cher
- Jürgen Flieger
- u.a.
Wie kann man eine Legasthenie erkennen?
Die Legasthenie kann sich beispielsweise durch eine so genannte „Differenzierungsprobe", mit einem zeitlichen Aufwand von 10 Minuten, schon bei 4 jährigen erahnen lassen. Der Test kann folgende Hinweise liefern:
- Durch das Nachmalen einiger einfacher Zeichen wird das optische Differenzierungsvermögen erfasst.
- Die Kinder geben Auskunft über ihre phonematische Unterscheidungsfähigkeit, durch Zeigen auf Bilder, die sehr ähnliche klingende Wörter repräsentieren.
- Kann ein Kind schwierig zu artikulierende Worte nachsprechen, so verfügt es über eine gute „kinästhetische Differenzierungsfähigkeit".
- Hinweise auf die melodische Differenzierungsfähigkeit, kann man durch das Nachsingen eines einfachen, bekannten Kinderliedes kriegen. Die melodische Differenzierungsfähigkeit ist wichtig für die Intonation beim Sprechen.
- Durch das Nachklatschen einfacher Rhythmen kann man Hinweise auf die rhythmische Differenzierungsfähigkeit erlangen.
Je nach den Ergebnissen der Untersuchung wird ein Förderprogamm vorgeschlagen, welches die Auftretenswahrscheinlichkeit von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten deutlich herabsetzt.
Folgen einer Legasthenie
Mit der Zeit verlieren die Kinder ihr Zutrauen in ihre Fähigkeiten. Sie sind häufig unmotiviert und verlieren ihr Selbstbewusstsein. Manche Kinder entwickeln sogar Sekundärsymptome. Hierzu gehören unter anderem:
- Schulangst
- Psychosomatische Beschwerden
- Einnässen
Die Symptome können sich natürlich auch auf die anderen Schulfächer auswirken, so dass dieser Kinder mit der Zeit auch in anderen Fächern versagen. Im schlimmsten Fall kann es zu einer Sonderschulüberprüfung und sogar Umschulung kommen, obwohl die Kinder eigentlich über eine normale oder durchschnittliche Intelligenz verfügen und durchaus einen Regelschulabschluss erlangen können. Auch das Abitur ist für diese Kinder erreichbar.
Ursachen von Legasthenie
Die Ursachen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Ursachen für das Auftreten einer legasthenen Störung können sein:
- Medizinische Ursachen
- soziale Komponenten
- pädagogische oder psychologische Ursachen
Man weiß heute, dass die Veranlagung zur Entwicklung einer Legasthenie in hohem Maße erblich ist. Natürlich wird die Legasthenie nicht selbst vererbt, sondern lediglich die Neigung dazu (Disposition).
Man unterscheidet generell zwischen der primären, sekundären und tertiären Legasthenie.
Primäre Legasthenie
Als primäre Legastheniker gelten vor allem Menschen, die durch Einflüsse während der Schwangerschaft (vor allem während der Geburt), Schädigungen der neuro-biologischen Funktionen erlitten. Solche Einflüsse können von Röntgenstrahlen, Drogen, Genussgiften, Medikamenten oder mechanischen Einwirkungen (z.B. Sauerstoffmangel) ausgehen.
Daneben gibt es natürlich auch andere Risikofaktoren wie beispielsweise häufige Mittelohrentzündungen, die zu zentralen Hörwahrnehmungsstörungen führen können und in deren Gefolge es zu Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten kommen kann.
Sekundäre Legasthenie
Einige Autoren bezeichnen massive Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten als sekundäre Legasthenie. Sie wird durch mangelnde Anregungen oder gar schädigende Einflüsse des kleinkindlichen Umfelds verursacht, beispielsweise durch Vernachlässigung oder gravierende soziale Probleme der Familie (Armut, Alkoholismus eines Elternteils). Wächst das Kind unter bestimmten problematischen Bedingungen auf, so kann sich dies auf den Schriftspracherwerb in der Schule nachhaltig und gravierend auswirken, wie bei der primären Legasthenie.
Tertiäre Legasthenie
Treten gelegentlich Schwierigkeiten beim Erwerb der Schriftsprache auf, die die Schule zu verantworten hat, so wird dies als tertiäre Legasthenie bezeichnet. Dieser kann hervorgerufen werden durch schlechte Rahmenbedingungen in der Schule, unzeitgemäßer Ausbildungsstand der Lehrkräfte, falsche Methodik, nicht kindgemäße Pädagogik sowie Leistungsauslese statt Förderung. Der Unterricht wird nicht an die individuellen Lernbedürfnisse der Kinder angepasst. In der Regel lernen diese Kinder trotzdem das Lesen und Schreiben.
Des Weiteren gibt es auch vorübergehende Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten, die durch Schulwechsel, seelische Belastungen, Krankheit oder Übungsmangel ausgelöst werden können. Es handelt sich hier jedoch nicht um Legasthenie. Diese Probleme können sich dennoch verfestigen, wenn nicht mit geeigneten Mitteln gegengesteuert wird.
Was kann man bei Legasthenie tun?
Bei Verdacht auf Legasthenie sollten Sie unbedingt mit dem Lehrer sprechen. Fragen Sie ihn ganz offen, ob bei ihrem Kind eine Lese- und Rechtschreibschwäche vorliegt. Lassen Sie sich gegebenenfalls vom Schulpsychologen beraten. Zudem gibt es zahlreiche Beratungsstellen die einen Test machen, der sowohl die Intelligenz als auch die Rechtschreibfähigkeit des Kindes untersucht. Wird bei ihrem Kind eine Legasthenie festgestellt, so besteht die Möglichkeit an einer schulischen Förderung teilzunehmen.
Falls diese Förderung nicht ausreichend sein sollte, kann eine außerschulische Lerntherapie notwendig sein. Bei der Legasthenie ist frühe Hilfe sehr wichtig, um dem Kind weitere Störungen zu ersparen. Schulpsychologen bieten eine kostenlose Beratung und Hilfe an. Nach der psychologischen Diagnostik können sie Wege zeigen, die dem Kind individuell weiterhelfen. Zudem ist die schulpsychologische Stellungnahme ausschlaggebend bei der Kostenübernahme des Jugendamtes bei außerschulischen therapeutischen Maßnahmen. Droht nämlich dem Kind eine seelische Behinderung, so hat es unabhängig vom elterlichen Einkommen einen Anspruch auf staatliche Hilfe (nach § 35a des Kinder- und Jugendhilfegesetzes).